«China sieht sich im Zenit der Macht»

Chenchao Liu, Experte für den chinesischen Gesundheitssektor, spricht über die Qualität chinesischer Impfstoffe, die unterschiedlichen Strategien Europas und Chinas bei der Pandemiebekämpfung und die Chancen europäischer Medizintechnik- und Pharmafirmen im Reich der Mitte.

Matthias Kamp
Drucken
Mitarbeiter von Sinovac bereiten die Produktion von COVID-19-Vakzinen in Peking vor.

Mitarbeiter von Sinovac bereiten die Produktion von COVID-19-Vakzinen in Peking vor.

Thomas Peter / Reuters

Herr Liu, China hat bereits vier zugelassene Impfstoffe, in Europa herrscht Knappheit. Sollte die EU chinesischen Impfstoff prüfen und allenfalls zulassen?

Die Vereinigten Arabischen Emirate setzen den Impfstoff der chinesischen Firma Sinopharm bereits seit Dezember ein. Dort wurde eine Wirksamkeit von 86 Prozent in der Phase-III-Studie bestätigt. Neben vielen anderen Ländern setzen auch Ungarn und Serbien auf chinesische Impfstoffe. Kritiker chinesischer Impfstoffe bemängeln hingegen eine fehlende Transparenz aufseiten der Hersteller und blicken mit Skepsis auf die wechselhaften Ergebnisse zur Wirksamkeit der Impfstoffe in verschiedenen Ländern.

Bei der Beschaffung von Masken in Europa im vergangenen Jahr lief es am Anfang ziemlich chaotisch. Woran lag das?

Das war eine ganz besondere Situation. Niemand hatte mit einem solchen Ausmass der Pandemie gerechnet. Dass die Schutzausrüstungen knapp waren, kann niemanden wundern. Europäische Länder haben ausserdem strenge Sicherheitsstandards und -normen. Wenn die nicht eingehalten werden, kommen die Waren nicht ins Land.

Hat China vergleichbar strenge Standards?

China hat den GB-Standard als nationalen Standard. In Europa gibt es die Europäischen Normen EN. FFP2-Masken beispielsweise sind nach EN149 normiert. Diese Masken entsprechen etwa den KN95-Masken mit der chinesischen Norm GB2626. Die Schutzwirkung und die Funktionalität sind aber nicht identisch. Das Testverfahren beispielsweise unterscheidet sich punkto Testträgerlösung. Bei FFP2-Masken ist dies eine Kochsalzlösung mit Paraffinöl und bei KN95-Masken nur Kochsalzlösung. Aber im Grossen und Ganzen sind die Standards vergleichbar.

Zur Person

Chenchao Liu
PD

Chenchao Liu

Chenchao Liu ist Geschäftsführer von Silreal GmbH, einem Beratungsunternehmen, das sich auf Kooperationen zwischen China und Europa im Gesundheitswesen spezialisiert. Der gebürtige Chinese lebt seit 2002 in Deutschland und hat an der TU München Chemie studiert. Derzeit ist er als Dozent für das Thema Digital Health China am IKF in Luzern tätig. Silreal berät Unternehmen aus der Gesundheitsbranche, Institutionen wie das deutsche Bundesministerium für Gesundheit, den Bundesverband der Deutschen Industrie sowie die Fraunhofer-Gesellschaft.

China hat, anders als Europa, die Pandemie in den Griff bekommen. Was können wir uns dort abschauen?

Man sollte da nicht schwarz-weiss malen, nach der Devise «In China läuft alles gut, in Europa schlecht». Die Situation ist komplex und ambivalent. Es beginnt mit der datengestützten Überwachung. In China muss jeder eine App auf dem Smartphone haben, die anzeigt, ob jemand infiziert ist oder als Risikofall gilt. Diese App funktioniert als Zugangskontrolle, etwa zur U-Bahn. In Europa gibt es auch Corona-Apps, aber aus Datenschutzgründen haben diese Apps deutlich weniger Funktionen. Da stellt sich die Systemfrage für demokratische Länder: Soll das Interesse der Mehrheit stets das der Minderheit überwiegen? Falls ja, was ist mehrheitsfähig, Gesundheitsschutz oder Datenschutz? Die Antwort ist nicht einfach, aber transparente Datennutzung ermöglicht effizientes Agieren in einer Pandemie und schafft mehr Vertrauen.

Hat China das Virus besiegt?

Die Lage ist ziemlich gut unter Kontrolle. Es gibt aber immer wieder kleinere lokale Ausbrüche, die es oft nicht in die Medien schaffen.

Wie blickt China auf den teilweise hilflosen Umgang der westlichen Staaten mit der Pandemie?

China hat die Pandemie schnell und erfolgreich in den Griff bekommen. Ferner versorgte man die halbe Welt mit Schutzausrüstung und Impfstoff. Vor dem Hintergrund der politischen Divergenz des Westens, insbesondere in den USA unter dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump, sieht China sich im Zenit der Macht. In der chinesischen Bevölkerung fragen sich viele Menschen, warum nach der SARS-Pandemie in 2002 auch Covid-19 in China ausbrach und was das Land zusammen mit der Weltgemeinschaft unternehmen wird, damit die Wahrscheinlichkeit vergleichbarer Pandemien marginalisiert wird.

China hat in den vergangenen Jahren enorme Anstrengungen unternommen, um sein Gesundheitssystem zu modernisieren. Wo sind die Fortschritte am grössten? Wo gibt es die grössten Defizite?

China ist für Medizintechnik- und Pharmafirmen ein sehr attraktiver Markt. Westliche Firmen blicken aufgrund der politischen Entwicklung und struktureller Defizite der Wirtschaft auch mit einer gewissen Skepsis auf das Land. In Deutschland, wo ich lebe, liegen die jährlichen Ausgaben für Gesundheit pro Kopf bei etwa 5000 Euro, in China betragen sie rund einen Zehntel davon. Da gibt es also noch Potenzial. Gleichzeitig steigt der Druck auf die Regierung, das Gesundheitssystem im Zuge der schnell alternden Gesellschaft rasch zu modernisieren.

Wie können schweizerische und deutsche Firmen von der Entwicklung profitieren?

Chinesische Spitäler haben einen grossen Bedarf an Geräten im Bereich Bildgebung, also an Röntgen- und Ultraschallgeräten sowie Computertomografen, und sie zollen westlichen Marken oftmals grossen Respekt. China will natürlich auch die inländischen Hersteller voranbringen, gerade in High-End-Bereichen ist man aber immer noch auf Anbieter aus dem Ausland angewiesen.

Gibt es Beispiele?

Beispiele sind die Therapie in der Onkologie sowie Herzschrittmacher. Diese werden in China stark nachgefragt. Das hat aber nicht nur mit dem tatsächlichen – möglicherweise auch nur vermeintlichen – technologischen Vorsprung zu tun, sondern auch mit Psychologie und subjektiver Wahrnehmung. Es geht um das Image westlicher Marken, auch wenn chinesische Firmen in den vergangenen Jahren sehr viel besser geworden sind.

Die Medizintechnik und der Pharmasektor sind stark reguliert. Das macht den Markteintritt doch schwierig.

Die regulatorischen Rahmenbedingungen verbessern sich ständig. Aber China bewegt sich selten freiwillig, sondern agiert oft opportunistisch. Die Behörden in Europa und China entwickeln eigene Normen und Standards nicht nur, um die Sicherheit und die Qualität von Produkten und Dienstleistungen zu gewährleisten, sondern auch als Massnahmen zur Beschränkung des Marktzugangs. Zuversicht kann man dennoch haben, da immer mehr Normen zwischen der EU und China im Gesundheitswesen harmonisiert werden. Die Covid-19-Pandemie zeigt hierbei eine katalysierende Wirkung dieser Entwicklung.

Wo hat es jüngst echte Verbesserungen gegeben?

Pharmazeutische Präparate aus dem Ausland beispielsweise werden immer häufiger und schneller zugelassen und kommen auf die Liste der erstattungsfähigen Medikamente. Ferner wurden Zölle auf Pharmaprodukte gesenkt, und klinische Studien aus dem Ausland werden von chinesischen Behörden anerkannt. China kommt den Europäern in diversen Bereichen immer mehr entgegen, nicht zuletzt weil das Verhältnis zu den USA auch mit der neuen Administration nicht einfacher wird. Das neulich geschlossene Investitionsabkommen zwischen der EU und China ist ein bedeutender Schritt in Richtung mehr Kooperation in der Gesundheitswirtschaft.